oder Freundschaft schließen mit sich selbst
Schon seit einigen Jahren schreibe ich immer mal wieder über ein Phänomen, das mir in Seminaren wiederholt begegnet. Es geht um eine Art Perfektionismus – eine Härte sich selbst oder den Kindern gegenüber, wenn es nicht so läuft wie gedacht. Vor allem, wenn wir als Eltern in Stress geraten, verhalten wir uns in einer Art und Weise, auf die wir anschließend nicht gerade stolz sind.
Es lohnt sich sicher, den inneren Kommentaren zu lauschen, die in und nach solchen Situationen ablaufen. Würden wir so zu einer guten Freundin sprechen, die es gerade schwer hat? Oder was würden wir zu jemandem sagen, der so von unseren Kindern spricht? Ist das nicht erstaunlich, dass wir dies immer wieder tun, obwohl diese Härte uns das Leben noch schwerer macht, als es ohnehin schon ist?
Für viele von uns ist das Elternsein eine ganz besonders intensive emotionale Herausforderung – vermutlich weil es kaum eine andere Beziehung gibt, die uns in einem solchen Ausmaß bis in die tiefsten Schichten unseres Wesens berührt. Wir kommen in Kontakt mit unserem weichen Kern, jenseits aller Schutzmauern, die wir um unser Herz errichtet haben. Damit kommen wir aber unweigerlich auch mit unseren tiefsten Verletzungen und unerfüllten Bedürfnissen in Berührung. So kommt es immer mal wieder zu Gefühlsturbulenzen, die wir in dieser Art – wenn überhaupt – nur selten erlebt haben.
Gerne verwende ich für diese Herausforderung das Bild des Wellenreitens: Wenn wir im Gleichgewicht sind, können wir die Wellen nehmen, wie sie kommen. Wir sind präsent, flexibel, in Kontakt mit uns, unserem Herz und dem Kind – wir sind sozusagen im grünen Bereich. Anders sieht es aus, wenn wir aus dem Gleichgewicht geraten – in den roten Bereich. Dies kann äußere Gründe haben – zu hohe Belastungen, Ereignisse, die uns aus der Bahn werfen, Schlafmangel oder andere Formen von Stress. Oder innere Gründe wie Gefühle der Überforderung, der Ungeduld, der Hilflosigkeit, Ohnmacht oder der Scham. Meist ist es eine Kombination von beidem und unser Bedrohungssystem mit seiner Stressreaktion drängt uns zu Verhaltensweisen, die alles andere als angemessen sind.
Wenn der innere Stress überhandnimmt – wenn wir in den roten Bereich geraten – werden wir kühl oder eng und hart, verlieren unser Einfühlungsvermögen und unsere Fähigkeit, flexibel und angemessen auf eine Situation zu antworten. Bildlich gesprochen, könnte man sagen, der Höhlenmensch in uns übernimmt die Regie, da er sich für alles verantwortlich fühlt, was bedrohlich sein könnte. Das mag in der Savanne vor ein paar Tausend Jahren für das Überleben sinnvoll gewesen sein oder bei echter Lebensgefahr auch noch heute, allerdings ist er vollkommen ungeeignet, einfühlsam, flexibel und liebevoll mit einer emotional herausfordernden Situation umzugehen. Für die Regulation solch starker Emotionen sind laut der aktuellen Gehirnforschung vor allem Bereiche im Frontalhirn zuständig, die sich sehr viel später in der Evolution entwickelt haben als unser Bedrohungssystem. Wie gut uns das gelingt, hängt von verschiedenen Faktoren ab – unserem Naturell, unseren Erfahrungen in der eigenen Kindheit und anderen Faktoren, die auch für die Neurowissenschaften noch ein Rätsel sind. Eines ist jedoch durch vielfältige Studien belegt – wir können diese Fähigkeit trainieren. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich noch die Hauptfaktoren beschreiben, die unsere Fähigkeit beeinflussen, uns im Einklang mit unseren inneren Werten zu bewegen und uns entsprechend zu verhalten.
1. Herausforderungen
2. Unsere Schwachpunkte
3. Unsere Ressourcen
Auf die Herausforderungen, die das Leben uns präsentiert, haben wir relativ wenig Einfluss – so wie wir beim Surfen wenig Einfluss auf das Meer und die Wellen haben. Das Leben geschieht, während wir dabei sind, andere Pläne zu schmieden, wie John Lennon gesagt haben soll. Auch auf unsere Schwachpunkte haben wir nur bedingt Einfluss. Unsere Konstitution, unsere Erfahrungen in unserer eigenen Kindheit, Traumata oder äußere Faktoren wie mangelnde Unterstützung, finanzielle Mittel etc. Am meisten Einfluss haben wir auf unsere Ressourcen – wir können das Meer nicht kontrollieren, aber wir können lernen zu surfen. Um den Herausforderungen des Elternseins gewachsen zu sein, ist es wichtig, auch für uns selbst zu sorgen. Wir haben nicht nur eine Beziehung zu unseren Kindern oder anderen Menschen überhaupt, sondern auch eine Beziehung zu uns selbst.
Die Qualität dieser Beziehung ist maßgeblich geprägt durch die Art und Weise, wie wir selbst in unserer Kindheit von den uns wichtigen Erwachsenen gesehen wurden. Vor allem, wenn wir es gerade schwer haben, ist es sehr hilfreich, wenn wir wohlwollend, freundlich und liebevoll mit uns selbst sind. Das ist für viele Menschen leider leichter gesagt als getan. Wie oben schon beschrieben, sind sie sehr hart und kritisch mit sich selbst (oder mit den Kindern), wenn etwas nicht so läuft, wie sie sich das vorstellen. Und das macht die Situation dann noch schlimmer, da diese Art von Selbstkritik und Schuldgefühle den Stress und Druck nur erhöhen. Die gute Nachricht ist, dass dies nicht so bleiben muss. Wie unsere Erfahrung und inzwischen auch zahlreiche Forschungen zeigen, können wir derartige Verhaltensmuster auf tief greifende Weise ändern, was sich dann bis in eine veränderte Gehirnstruktur zeigt. Besonders wichtig für mehr Resilienz und Stressresistenz sowie ein besseres Einfühlungsvermögen und eine bessere Emotionsregulation ist die Entwicklung von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl. Das geht nicht von heute auf morgen, aber schon nach wenigen Wochen einigermaßen regelmäßiger Übung zeigen sich spürbare Veränderungen.
Indem wir lernen, mit uns selbst Freundschaft zu schließen, wird unser ganzes Innenleben freundlicher, wärmer und gelassener und dies trägt maßgeblich dazu bei, dass wir auch in herausfordernden Situationen eher bei uns bleiben und gemäß unseren inneren Werten handeln können, statt uns von unseren automatischen emotionalen Reaktionen mitreißen zu lassen. Darüber hinaus weisen aktuelle Forschungen darauf hin, dass wir eher Verantwortung für unser Handeln übernehmen, wenn wir mitfühlender mit uns sind, statt uns innerlich zu kritisieren. Dies scheint vor allem daher zu kommen, dass wir eher bereit sind, uns klar zu sehen, und auch die innere Stärke haben, Fehler einzugestehen, wenn wir keine Schuldzuweisungen, Beschämung oder Strafe fürchten müssen. Wenn wir uns schlecht, unzulänglich und schuldig fühlen, ist das keine gute Basis für Einsicht und ein tieferes Verständnis und die Wahrscheinlichkeit, dass wir unser Verhalten ändern, ist sehr viel geringer. Wenn wir in den roten Bereich geraten oder in unserer Geschäftigkeit nur noch erwarten, dass wir selbst und unsere Kinder zu funktionieren haben, sind wir in gewisser Weise nicht mehr wir selbst. Ein erster Schritt wäre, sich zu erinnern – an uns selbst und an das, was uns wirklich wichtig ist im Leben. Dafür ist es sinnvoll, sich diese Werte erst einmal ganz bewusst zu machen. Nehmen Sie sich eine ruhige halbe Stunde Zeit, in der Sie nicht gestört werden und sich besinnen können, und halten Sie die Werte, die Ihnen in den Sinn kommen, schriftlich fest. Dabei ist es hilfreich, nicht nur über diese Frage nachzudenken, sondern sie tiefer sinken zu lassen:
• Was ist mir besonders wichtig im Leben mit meinem Kind (meinen Kindern)?
• Wenn ich mir vorstelle, ich schaue von meinem Lebensabend aus zurück auf die heutige Zeit – was ist da wirklich von Bedeutung?
• Was sind meine langfristigen Ziele?
• Was hätte ich mir vor allem von meinen Eltern gewünscht und wie möchte ich für meine Kinder da sein?
Sich diese oder ähnliche Fragen immer mal wieder zu stellen, kann uns in schwierigen Situationen helfen, auf Kurs zu bleiben. Sie können eine Art Leitstern sein, an dem wir uns immer wieder neu orientieren und ausrichten können. Und wenn wir es im Ernstfall schaffen, innezuhalten, ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen und uns zu fragen, ob das, was wir jetzt tun wollen, unseren langfristigen Zielen entspricht, haben wir einen großen Schritt zu mehr emotionaler Balance getan.
Ein nächster Schritt könnte eine so genannte Selbstmitgefühlspause sein (nach Christopher Germer und Kristin Neff), die sich vor allem auch in herausfordernden Alltagssituationen bewährt hat. Besonders hilfreich ist sie, wenn wir es uns schon zur Gewohnheit gemacht haben, öfter mal am Tag wohlwollend bei uns selbst vorbeizuschauen, um ein Gefühl für unsere innere Wetterlage zu bekommen. Sind wir noch im grünen Bereich oder spüren wir schon einen gewissen Unmut, Ärger oder andere Warnzeichen, dass wir uns dem roten Bereich nähern? In dieser Phase können wir noch Einfluss nehmen und für uns selbst sorgen, so dass ein Abrutschen in den roten Bereich vermieden werden kann. Eine „Selbstmitgefühlspause“ könnte in etwa so aussehen: Wenn Sie bemerken, dass Sie ungeduldig werden oder sich Unmut in Ihnen regt, halten Sie erst einmal inne und lassen Sie sich einen Moment, dies anzuerkennen. Wenn Sie möchten, können Sie sich eine Hand auf den Bauch oder auf den Herzraum legen – als Erinnerung, wohlwollend und freundlich mit sich selbst zu sein, und als Einladung, erst einmal durchzuatmen und sich zu besinnen. Spüren Sie die Anspannung in Ihrem Körper und nehmen Sie die Gefühle und Gedanken war, die nun in Ihnen auftauchen und Sie zum Agieren drängen. Wenn Sie eine Tendenz in sich bemerken, sich zu verhärten, erkennen Sie auch dies erst einmal an. So können Sie z. B. zu sich selbst sagen: „Das passt mir jetzt überhaupt nicht! Das fühlt sich verdammt unangenehm an!“, oder wie immer Sie die Situation für sich beschreiben würden.
Als nächsten Schritt können Sie sich erinnern: „ Gut – ich mag das überhaupt nicht, aber shit happens! Ich kann weder das Leben noch meine Kinder kontrollieren und es wird immer wieder Situationen geben, in denen ich mich hilflos oder ohnmächtig fühle. Das ist nicht mein Fehler und ich bin damit auch nicht allein. Möge ich mich nicht verhärten, sondern einfühlsam und offen bleiben für mich und meine Kinder. Was ist jetzt wirklich wichtig? Wie sieht diese Situation aus Sicht der Kinder aus? Was wäre jetzt ein möglicher nächster Schritt?“ Das heißt nicht, dass wir die Situation sofort ändern können. Wir geben uns das Mitgefühl auch nicht, um das schwierige Gefühl loszuwerden – sondern einfach, weil es gerade schwierig ist. Wir lernen, uns selbst die Unterstützung zu geben, die wir in einer schwierigen Situation brauchen. Und dies gilt nicht nur für schwierige Situationen – letztlich brauchen auch wir innere Nahrung, um mehr und mehr im grünen Bereich zu bleiben.
Das Leben mit Kindern bringt immer auch schöne, freudige und bewegende Momente mit sich und es wäre zu schade, wenn wir diese verpassen würden. Wie Rick Hanson sagt:
Wir bewegen uns ständig über ein Feld von Juwelen, aber am Abend ist unser Sack leer, weil wir vor allem auf das geschaut haben, was nicht da ist oder was nicht funktioniert hat und dem, was schön und nährend ist, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben.
In seinem Buch „Just 1 Thing“ zeigt Rick Hanson zahlreiche Möglichkeiten, wie im Alltag – sozusagen im Vorbeigehen – unsere Ressourcen aufbauen und zu mehr Resilienz und Wohbefinden kommen können. Das geht nicht von einem Tag auf den anderen und leider kenne ich auch kein Geheimrezept, das uns zu schnellen Lösungen verhilft. Unser Gehirn wehrt sich gegen allzu schnelle Veränderungen – es möchte den Status Quo erhalten.
Bei der Praxis der Achtsamkeit und des Selbstmitgefühls handelt es sich also um Übungswege und Veränderungen geschehen in ihrer eigenen Zeit und nach ihrem eigenen inneren Gesetz. Aber auch, wenn die Veränderungen nicht über Nacht geschehen, zeigt sich doch nach relativ kurzer Zeit eine spürbare Verbesserung unserer Emotionsregulation, unserer Stressresistenz und unseres allgemeinen Wohlbefindens. Wenn wir es hin und wieder am Tag schaffen, uns der kleinen Freuden des Lebens mit Kindern gewahrzuwerden und diese bewusst zu genießen (damit meine ich nicht die Highlights, sondern wirklich die kleinen schönen Momente, die uns lächeln lassen) oder uns am Abend noch einmal an ihr Bett setzen, uns innerlich mit ihnen verbinden und uns vergegenwärtigen, in wie vieler Hinsicht sie unser Leben bereichern, wird sich die Familienatmosphäre schon bald spürbar verändern. Und in dem Maße, wie wir mit uns selbst Freundschaft schließen, wird es uns auch sehr viel leichter fallen, die Geschenke, die das Leben mit Kindern mit sich bringt, zu würdigen und gemeinsam mit unseren Kindern zu wachsen.
Artikel erschienen in der Zeitschrift „Mit-Kindern-wachsen“, Ausgabe Juli 2014