Lienhard Valentin im Gespräch mit der Zeitschrift Buddhismus AKTUELL:
Der Verleger Lienhard Valentin ist seit Mitte der 90er Jahre mit dem Thema Achtsamkeit verbunden. In seinem Arbor-Verlag sind massgebliche Bücher dazu erschienen, lange bevor andere Verlage das Thema als gut verkäuflich entdeckten. „Arbor Seminare“ organisiert mittlerweile auch Aus- und Fortbildungen im Bereich Achtsamkeit. Das Gespräch führte Ursula Richard.
Buddhismus aktuell: Achtsamkeit scheint mehr und mehr in der Mitte unserer Gesellschaft anzukommen. Daran haben Sie, hat Ihr Arbor Verlag in sicher nicht zu unterschätzendem Maße beigetragen, haben Sie doch Jon Kabat-Zinn im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht wie auch andere, die Achtsamkeit aus den Meditationshallen in andere Settings gebracht haben. Wie ist die Achtsamkeit zu Ihnen gekommen?
Lienhard Valentin: Durch ein Buch von Joseph Goldstein kam ich vor dreißig Jahren zur Vipassana-Meditation und besuchte in der Folge regelmäßig Retreats, vor allem bei Jack Kornfield. Einige Jahre später begann ich, einige Elemente aus meinen Erfahrungen mit dieser Praxis in meine Arbeit mit Eltern zu integrieren. 1995 auf der Buchmesse stieß ich dann auf das Buch von Jon und Myla Kabat-Zinn zum achtsamen Leben mit Kindern, war fasziniert, erwarb die deutschen Rechte und lud die beiden 1997 nach Deutschland ein. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich so gut wie nichts über MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) und Kabat-Zinns Arbeit in der Stress Reduction Clinic.
BA: Jon Kabat-Zinn könnte man ja vielleicht als den Vater der säkularen Achtsamkeitsbewegung bezeichnen. Er selbst versteht seinen Ansatz, soviel ich weiß, ja auch als Dharmapraxis, also als eine Form buddhistischer Praxis. Wie würden Sie das beschreiben, was da unter anderem durch ihn in die Welt gekommen ist?
LV: Jon praktizierte selbst seit vielen Jahren Zen und Vipassana-Meditation, und als er mit dem Ausmaß von Leiden in Krankenhäusern in Kontakt kam, ließ ihn der Gedanke nicht los, die Meditationspraxis diesen Menschen in einer Form zugänglich zu machen, die nicht an eine Religion gebunden ist und dieses Leiden mildern kann. Er sieht sich aber nicht als Buddhist, sondern spricht lieber vom universellen Dharma, wenn seine Wurzeln auch vor allem im Buddhadharma liegen.
BA: Achtsamkeit wird heutzutage auf oft sehr, sehr unterschiedliche Weise verstanden. Wie sehen Sie den Unterschied zwischen einem säkularen und einem buddhistischen Verständnis von Achtsamkeit?
LV: Ich würde das persönlich nicht trennen – Achtsamkeit ist Achtsamkeit, wenn auch die Intentionen unterschiedlich sind. Für mich ist diese Praxis ein zeitgemäßer Weg, unseren Geist zu erforschen und zu trainieren, sodass mehr Menschlichkeit in die Welt kommen kann. Wer Jon Kabat-Zinn näher kennt, wird schnell merken, dass es ihm nicht um Buddhismus light geht, und so sehe ich das auch. Natürlich werden sich Menschen dieser Praxis aus den unterschiedlichsten Gründen nähern – vielleicht um besser mit Stress klarzukommen, um glücklicher zu sein, was auch immer. Damit habe ich kein Problem – wer tiefer gehen will, wird das auch tun. Auch innerhalb der buddhistischen Traditionen gibt es ja sehr unterschiedliche Auffassungen. Solange die Person, die Achtsamkeit vermittelt, mit der Essenz dieser Praxis verbunden ist und authentisch aus diesem Erfahrungshintergrund unterrichtet, ist es eher eine Frage der geschickten Mittel als eine Frage, ob das Verständnis säkular oder buddhistisch geprägt ist.
BA: Was geht in einem rein säkularen Verständnis Ihrer Meinung nach verloren? Was könnte aber auch der Vorteil sein?
LV: Nach meinem Verständnis muss gar nichts verloren gehen – das hängt wie gesagt ganz davon ab, wie die Praxis der Achtsamkeit vermittelt wird. In unseren Ausbildungen ist zum Beispiel ein einwöchiges Vipassana-Retreat mit sehr erfahrenen Leitern integriert, sodass jede und jeder mit den Wurzeln der Achtsamkeitspraxis in Kontakt kommen kann. Wenn sich jemand angesprochen fühlt, wird er den Weg weitergehen, wenn nicht, dann eben nicht. Natürlich kann ich nur etwas vermitteln, was ich selbst lebe und verkörpere; von daher gehört es zu einem guten Achtsamkeitslehrer, sich ständig weiterzuentwickeln und weiter zu lernen. Irgendein Zertifikat erworben zu haben sagt letztlich nicht viel aus. Darüber hinaus denke ich, dass unsere Welt dringend mehr Achtsamkeit und Mitgefühl nötig hat, und wir können nicht warten, bis genügend erleuchtete Lehrer oder Buddhisten etwas bewirken. Ich sage gerne, dass es die Zeit der Hobbits ist – wir sind aufgerufen, etwas von dem, was wir über den Dharma und die Praxis der Achtsamkeit wirklich verstanden haben, zum Wohle der Menschen weiterzugeben, in einer Form, die für uns und die leidenden Menschen Sinn macht und authentisch ist. Wenn also die sogenannte säkulare Achtsamkeit mehr Menschlichkeit in die Welt bringt – was sollte dagegensprechen? Natürlich besteht immer die Gefahr, dass sie instrumentalisiert wird und in die subtile Aggression der Selbstverbesserung abgleitet. Das habe ich aber auch bei vielen traditionell buddhistisch Meditierenden gesehen.
BA: Inzwischen wird auch in der säkularen Achtsamkeitsbewegung davon gesprochen, dass Achtsamkeit ohne Mitgefühl und Selbstmitgefühl nicht sehr weit trägt, und es werden Programme angeboten, die beides verbinden. Wie sehen Sie diese Entwicklung? Gibt es Ihrer Ansicht nach einen Unterschied zwischen einem säkularen und einem buddhistischen Verständnis von Mitgefühl?
LV: Natürlich ist Mitgefühl schon implizit in der Achtsamkeitspraxis enthalten, wenn sie entsprechend vermittelt wird. Trotzdem habe ich bei mir selbst und auch bei vielen Teilnehmenden an unseren Seminaren die Erfahrung gemacht, dass es sehr hilfreich ist, einen wohlwollenderen, freundlicheren Umgang mit sich selbst zu kultivieren. Vielleicht sollte man nicht so sehr das säkulare vom buddhistischen Verständnis unterscheiden, sondern vielmehr auf das westliche und östliche Verständnis schauen. Da finde ich die Arbeit von John Welwood besonders inspirierend. Die Integration einer Praxis, die sich in einer anderen Kultur und überwiegend in Klöstern entwickelt hat, lässt sich nicht eins zu eins auf unser Leben in unserer heutigen Gesellschaft übertragen. MBSR, MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy), MSC (Mindful Self Compassion) und all die anderen achtsamkeitsbasierten Verfahren beruhen ja nicht ausschließlich auf der buddhistischen Meditationspraxis; sie sind auch geprägt von modernen psychotherapeutischen Ansätzen und Erkenntnissen aus der Pädagogik, der Lernforschung und so weiter. Vorreiter sind da sicherlich Jack Kornfield und andere westliche Vipassana-Lehrer, die ihre Erfahrungen in buddhistischen Klöstern durch westliche psychotherapeutische Einsichten und Ansichten ergänzt haben.
BA: Welches sind für Sie die wichtigsten Felder für Achtsamkeit?
LV: Für mich ganz persönlich ist es die Arbeit mit Eltern bzw. das Leben mit Kindern – schon lange bevor ich selbst Vater wurde, hat es mich zutiefst interessiert, wie Kinder auf eine Weise aufwachsen können, dass sie sie selbst bleiben können und nicht nach den Vorstellungen der Erwachsenen verbogen werden. Die Kultivierung von Achtsamkeit und Mitgefühl sind da natürlich unerlässlich – vor allem auch von Selbstmitgefühl. Grundsätzlich ist an erster Stelle natürlich die Gesundheitsvorsorge zu nennen, bei der MBSR seine Wirksamkeit inzwischen überzeugend bewiesen hat. Aber auch im psychotherapeutischen Kontext, in Familien, Schulen, bei alten Menschen und so weiter gibt es erfreuliche Entwicklungen.
BA: Wie sehen Sie die Zukunft der säkularen Achtsamkeits- und Mitgefühlsbewegung? Ist es eine Modewelle oder hat sie transformatives Potenzial, das sich zunehmend in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen entfalten wird?
LV: Ich denke, dass es beides ist. Wie sie sich weiterentwickeln wird, hängt vor allem von der Qualität der Ausbildungen ab und von den grundlegenden Intentionen der Menschen, die die Praxis vermitteln. Jon Kabat-Zinn sagt gerne, dass man diese Praxis nur vermitteln kann, wenn man sie liebt. Wer es macht, um Anerkennung, Geld oder was auch immer zu bekommen, wird früher oder später in eine Sackgasse geraten. Insofern schützt sich die Praxis selbst, und es ist nicht notwendig, eine „Dharmapolizei“ zu installieren. Das führt doch meist nur zu Dogmatismus und Machtkämpfen. Die Modewelle wird vorbeigehen, aber überall dort, wo die Praxis authentisch und kompetent vermittelt wird, wird sie auch ihre heilsame Wirkung entfalten – in welchen gesellschaftlichen Bereichen auch immer.
BA: Muss man in zwanzig Jahren einen MBSR-Kurs gemacht haben, um eine Anstellung zu bekommen, weil man damit über mehr Stressresistenz verfügt?
LV: Das hoffe ich nicht. Die Instrumentalisierung der Praxis wird auf lange Sicht nicht funktionieren. Das ist ja das Schöne an der Praxis – sie wird dann am tiefsten wirken, wenn sie um ihrer selbst praktiziert wird, und nicht, um sich „zurechtzumeditieren“. Das ist letztlich immer eine mehr oder weniger subtile Gewalt gegen sich selbst und beruht auf einer inneren Aversion oder einem Widerstand unserer inneren Wirklichkeit gegenüber.
BA: Sie haben 1996 die Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“ gegründet, die es immer noch gibt. Es ist ein Feld, das Sie auch persönlich, glaube ich, sehr interessiert. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Qualitäten für Erwachsene und für Kinder, um miteinander zu wachsen?
LV: O – da sprechen Sie ein heikles Thema an! Wenn ich da mal anfange … Kurz gesagt: Damit Kinder nicht verbogen werden und im Einklang mit sich selbst aufwachsen können, brauchen sie Resonanz – oder anders ausgedrückt, sie müssen sich „gefühlt“ und bedingungslos geliebt fühlen. Die Praxis von Achtsamkeit und Mitgefühl sind wunderbare Möglichkeiten, sich auf das Wesen eines Kindes einzustimmen, den Anfängergeist zu kultivieren und sich immer neu und offen dem inneren Geheimnis zuzuwenden, wer ein Kind in seiner Essenz ist und was es braucht, um im Einklang mit sich selbst aufzuwachsen. Das findet man in keinem Buch, sondern es offenbart sich, wenn wir wirklich präsent, mitfühlend und offen sind. Das Kind braucht keine besonderen Qualitäten – es wächst von allein, wenn es die entsprechenden Bedingungen vorfindet, und sein grundlegendes Gutsein sowie sein ganz individuelles Wesen kann zur Entfaltung kommen. Damit sage ich nicht, dass das leicht wäre. Kinder berühren uns in einer Tiefe wie sonst kaum ein anderer Mensch, und das bringt Ge-fühle an die Oberfläche, die ansonsten häufig im Verborgenen bleiben. Ich habe nirgendwo – auch in keinem Retreat – so viel gelernt wie durch das Vatersein.
BA: Thich Nhat Hanh spricht in seinen Büchern oft vom „Wunder der Achtsamkeit“. Können Sie aus Ihrem eigenen Erleben von einem solchen Wunder erzählen?
LV: Es gibt sicherlich einige „wunderbare“ Erfahrungen aus den diversen Retreats, die ich besucht habe. Das größte Wunder aber ist für mich, wie sich die Praxis der Achtsamkeit und des Mitgefühls in mein alltägliches Leben sozusagen eingeschlichen hat. Es ist so, als würden durch die Praxis un-terirdisch Qualitäten wachsen, die dann plötzlich im Alltag aufblühen. Das muss ich nicht „machen“, es geschieht nach seinem eigenen inneren Gesetz – die Praxis verändert mich, ohne dass ich sie als Methode einsetze, um irgendetwas gezielt zu verändern. Das ist doch wirklich wunderbar!
BA: Sie haben neben den vielen Büchern über Achtsamkeit auch immer wieder buddhistische Lehrende wie Pema Chödron, Chögyam Trungpa, Dzigar Kongtrul herausge-bracht. Was fasziniert Sie an buddhistischen Sichtweisen, das über säkulare Achtsamkeitsansätze möglicherweise hinausgeht?
LV: Die buddhistische Meditation ist eine der Wurzeln fast aller Achtsamkeitsprogramme, und auch für mich persönlich ist Vipassana nach wie vor meine Kernpraxis. Von daher interessieren mich natürlich die Erfahrungen und Erkenntnisse von Menschen, die ihr Leben der Meditation verschrieben ha-ben. Mich persönlich faszinieren aber auch Mystiker aus anderen Traditionen sowie Sufilehrer wie Llewellyn Vaughan-Lee und Reshad Feild oder auch manche psychotherapeutische Ansätze sowie Erkenntnisse aus der Bindungs- und Gehirnforschung. Angetan bin ich auch von den Büchern von Ezra Bayda, der für mein Gefühl ein besonders zeitgemäßes Zen vertritt, ohne dabei seine Essenz zu vernachlässigen. Ihn würde ich gerne auch persönlich kennenlernen – vielleicht kommt er mit seiner Frau 2016 oder 2017 nach Deutschland.
BA: Mir scheint manchmal, dass sich in den USA die säkulare Achtsamkeitsbewegung bewusst von den buddhistischen Traditionen absetzt und sozusagen ihre eigene „Religion“ ausbildet. Wie sehen Sie das? Ist das auch bei uns schon angekommen oder zu erwarten?
LV: Bei den Lehrenden, mit denen wir zusammenarbeiten, konnte ich das nicht feststellen – im Gegenteil. Ich persönlich würde das auch nicht gutheißen, zumindest nicht grundsätzlich. Wobei ich nicht ausschließen möchte, dass es teilweise dazu kommen kann. Vor allem in wissenschaftlichen, aber auch in medizinisch-therapeutischen Kreisen sind teilweise starke Vorbehalte gegen jegliche religiöse Tendenz zu finden, und es gibt heute immer mehr Menschen, die mit Religion nichts zu tun haben wollen. So kann ich mir schon vorstellen, dass es in bestimmten Kontexten Bestrebungen gibt, jeglichen Bezug zu einer Religion auszuschließen, um nicht in vornherein auf Widerstand zu stoßen. Dabei kann das Kind natürlich mit dem Bade ausgeschüttet werden. Wenn der Bezug zu den Wurzeln der Achtsamkeitspraxis verloren geht, wird auch diese an Kraft und Tiefe verlieren. Ich persönlich fühle mich sehr angesprochen von dem, was der Dalai Lama oft betont: dass wir vielleicht grundsätzlich von Religionen Abstand nehmen und vielmehr eine universelle Ethik entwickeln und leben sollten. Religionen haben schon immer zu Trennung und Dogmatismus bis hin zu Kriegen geführt. Für mich persönlich gibt es keinen richtigen Weg, der für alle Menschen passt, und herauszufinden, was mein eigener Weg ist, kann mir niemand abnehmen.
BA: Wie könnten sich Ihrer Meinung nach Buddhismus und säkulare Achtsamkeitsbewegung befruchten?
LV: Für mich tun sie das bereits in vielerlei Hinsicht. Letztlich geht es darum, ein möglichst umfassendes Wissen um die Funktionsweise des menschlichen Geistes zu entwickeln und Wege zu finden, die Erkenntnisse und Praktiken des Buddhismus auf geschickte Weise für ein Leben in unserer verrückten westlichen Gesellschaft nutzbar zu machen. Wenn wir uns nicht in Richtungskämpfen verirren, sondern auch andere Sichtweisen zulassen können und vielleicht sogar gemeinsam an diesem Prozess weiterarbeiten, kann sich etwas ganz Neues und zutiefst Heilsames entwickeln – für uns selbst und unsere ganze Gesellschaft. Dass dies dringend nötig ist, ist wohl kaum zu übersehen.