Was braucht es um den Entwicklungsprozess unserer Kinder zu unterstützen?
Es gibt pädagogische Konzepte, die uns inspirieren und auf dem Weg mit Kindern unterstützen können. Jede Pädagogik birgt allerdings auch die Gefahr, dass wir uns automatisch an Regeln halten und den wirklichen Kontakt zu den Kindern und uns selbst verlieren. Wie können wir unbewusste Gewohnheiten und Handlungsmuster erkennen, sie ablegen und uns voll und ganz auf die Kinder einstimmen? Hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel.
Schon seit den ersten Tagen des Vereins Mit Kindern wachsen inspirierte uns die Sicht und innere Haltung von Maria Montessori. Seit dieser Zeit haben sich viele neue Initiativen gegründet, die sich an Maria Montessori oder der Arbeit der Wilds orientieren. Wir werden beide regelmäßig zu Vorträgen, Seminaren oder zur Supervision zu solchen Initiativen eingeladen und auch unsere eigenen Kinder gehen oder gingen an Schulen mit einer solchen Ausrichtung. Ob als Eltern oder als Kursleiter begegnen wir dabei immer wieder ähnlichen Fragen:
- An was orientieren wir uns, wenn wir mit Kindern neue Wege gehen wollen?
- Wie lernen Kinder eigentlich?
- Was heißt es konkret, ihren inneren Bauplan zu respektieren?
- Wie bewege ich mich in dem Spannungsfeld von inneren Entwicklungsbedürfnissen und Anforderungen bzw. Tendenzen in der Gesellschaft?
- Muss man sich als Erwachsener tatsächlich immer zurückhalten und die Kinder alles selbst entdecken lassen?
Auf all diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten – zumindest nicht in der Art eines Konzeptes, das wir einfach nur befolgen bräuchten. Vielmehr sind es Fragen, die wir uns immer wieder von neuem stellen sollten – ansonsten besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass wir in Automatismen oder Dogmen gefangen sind und den wirklichen Kontakt zu den Kindern verlieren. Das geschieht sehr schnell, wenn wir an einer äußeren Form oder Regel festhalten, ohne sie immer wieder in Frage zu stellen. Nicht nur jedes Kind ist anders, sondern auch jede Situation findet vor dem Hintergrund eines jeweils spezifischen Kontextes statt, der zu berücksichtigen ist.
Sich auf die Kinder einstimmen
So war Lienhard vor einigen Jahren von einem Montessori-Kindergarten zu einem Vortrag eingeladen worden. Beim Rundgang durch die Einrichtung fiel ihm auf, dass es überall extrem ordentlich und sauber aussah und jedes nur denkbare Montessori-Material war dort fein säuberlich in Reichweite der Kinder präsentiert. Das Problem war, dass vor allem die Jungs sich so gut wie gar nicht für dieses Material zu interessieren schienen, sondern lieber das Toilettenpapier eroberten und sich immer wieder neue Ideen einfallen ließen, was sie damit alles anstellen konnten. Um dies zu verhindern wurden Grenzen gesetzt, was nur dazu führte, dass das Konfliktpotential zunahm oder, wenn sie sich doch mal dem Material zuwendeten, dieses nicht im Sinne der Pädagogen benutzten, sondern sich irgend welche eigenen Spiele damit ausdachten.
Was war geschehen? Warum interessierten sich diese Kinder so gar nicht für das wertvolle und so schöne Material?
In diesem Fall sind erste Einsichten recht offensichtlich, wenn wir uns den Kontext anschauen. Maria Montessori hatte es vor allem mit Kindern zu tun, die reichhaltige Erfahrungen mit unstrukturierten Dingen hatten, mit denen sie frei von irgendwelchen pädagogischen Absichten spielten. Die Frage für Montessori war also, was es diesen Kindern ermöglichen würde, diese Erfahrungen zu strukturieren und Schritt für Schritt auch zu abstrahieren. So entwickelte sie ihr Material – eine geradezu geniale Entdeckung, die es den Kindern ermöglichte ihre Abstraktionsfähigkeit auf natürliche und spielerische Weise und immer verbunden mit ihrer konkreten Erfahrung zu entwickeln. Und die Kinder nahmen das Angebot mit Begeisterung an – für sie war dieses strukturierte Material etwas ganz neues und faszinierendes.
Maria Montessori war eingestimmt auf diese Kinder und so „sah“ sie, was es brauchte, sie in ihrem Entwicklungsprozess zu unterstützen. Sie war zugewandt und trug gleichzeitig die Frage in sich, was diese Kinder brauchten. Die Entdeckung des Materials war sozusagen eine Folge ihrer Zuwendung und Einstimmung auf die Kinder – ihrer inneren Haltung ihnen gegenüber.
Eine feste Vorstellung kann von den wirklichen Bedürfnissen der Kinder ablenken
Für die Jungs an diesem Kindergarten war die Situation eine völlig andere. Die Pädagogen waren nicht wirklich auf sie eingestimmt, sondern hatten eine feste Vorstellung im Kopf und auch eine pädagogische Absicht. So stand das Angebot hier nicht wirklich in Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Kinder. Diese hatten strukturiertes Spielzeug von kleinauf zur Verfügung. Da sie in einer Stadt aufwuchsen, fehlte es auf der anderen Seite an der Gelegenheit, ausgiebig mit unstrukturierten Dingen zu spielen und sich frei zu bewegen. Dies führte dann dazu, dass sie sich auf das einzige unstrukturierte Material stürzten, dass sie in dem Kindergarten finden konnten – das Toilettenpapier (es gab zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal Sand und Wasser im Freigelände, mit dem sie frei hätten spielen können).
Dieses Beispiel mag etwas krass sein und offensichtlich an den Kindern vorbei gehen, aber es ist sicherlich keine Ausnahme. Es liegt einfach in der Natur unseres Gehirns und unseres Wunsches nach Sicherheit und Orientierung, dass wir dazu tendieren, uns an das zu halten, was Maria Montessori oder andere Pädagogen, an denen wir uns orientieren wollen, „getan“ haben.
Die Natur unseres Gehirns
Was in einem bestimmten Kontext passend war, kann jedoch in einem anderen ganz unpassend sein und hier kommt das Thema Achtsamkeit ins Spiel. Unser Gehirn neigt dazu, Muster zu bilden – zu verallgemeinern. Das ist eine sehr hilfreiche Fähigkeit, denn wir können so Handlungen oder ganze Handlungsketten an unseren automatischen Piloten abgeben, so dass wir frei sind, uns anderen Dingen zuzuwenden.
Sie birgt jedoch auch die Gefahr, dass unsere Handlungen die Verbindung mit unserer gegenwärtigen Wirklichkeit verlieren. Ein einfaches Beispiel dafür ist es, wenn wir immer eine bestimmte Strecke zur Arbeit oder in die Stadt fahren. Nach einer Weile, wird diese Strecke automatisiert und wir müssen gar nicht mehr daran denken, wie wir fahren müssen. Wollen wir dann aber mal zu einem anderen Ziel, so kann es sein, dass wir irgendwann merken, dass wir die gewohnte Strecke zu unserer Arbeit gefahren sind, statt an den Ort, an den wir diesmal eigentlich fahren wollten.
Hinzu kommt unsere Tendenz vergangene Erfahrungen als Erwartung in die Zukunft zu projizieren. Auch dies tut unser Gehirn ganz automatisch, um uns auf etwas vorzubereiten, was vermutlich kommen wird.
Automatische Bilder in unserem Kopf – ein Beispiel
Lesen Sie zum Beispiel langsam folgenden Text und beobachten Sie gleichzeitig, welche Bilder in Ihnen entstehen:
„John ist auf dem Weg in die Schule. Er macht sich Sorgen über die Mathearbeit, die heute ansteht. Er hat keine Ahnung, wie er die Klasse ruhig halten und alles unter Kontrolle haben soll. Eine Mathearbeit zu beaufsichtigen ist einfach nicht die Aufgabe eines Hausmeisters.“
Haben Sie nach den ersten beiden Sätzen auch einen kleinen Jungen vor sich gesehen, der auf dem Weg in die Schule ist? Und dann, mit dem nächsten Satz, vermutlich einen Lehrer und erst ganz am Schluss sehen wir die Situation, wie sie tatsächlich ist. In diesem Beispiel korrigiert unser Gehirn seine Annahmen sehr schnell, sobald wir den nächsten Satz gelesen haben. Im realen Leben bleiben diese Annahmen aber meist unüberprüft.
Was in einer Situation sinnvoll ist, kann in einer anderen unsinnig sein
Dies wird auch wunderbar durch folgende Geschichte illustriert:
In einem Zenkloster hatte es sich eine junge Katze zur Angewohnheit gemacht, immer wenn die Mönche meditieren wollten, in die Meditationshalle zu kommen und schnurrend von einem Mönch zum anderen zu gehen. Dies wurde für einige der Mönche zu einem solchen Problem, dass sie schließlich übereinstimmten, die Katze während der Meditation in einer Ecke der Halle anzubinden. Die Maßnahme funktionierte, denn die Katze machte es sich ohne Widerstand in der Ecke gemütlich, bis sie nach der Meditation wieder losgebunden wurde. Diese Maßnahme wurde viele Jahre aufrecht erhalten, denn die Katze wurde sehr alt und als sie schließlich starb, wusste niemand mehr, warum sie eigentlich ursprünglich angebunden wurde. Aber da es offensichtlich eine wichtige Tradition war, wurde eine junge Katze in der Ecke angebunden und noch 100 Jahre später war das Kloster bekannt für die Ansicht, dass es von essentieller Bedeutung sei, während der Meditation eine Katze anzubinden.
Diese Geschichte macht deutlich, wie leicht etwas, das in einer bestimmten Situation Sinn gemacht hat, in einer anderen Situation unsinnig oder auch schädlich oder gar lebensfeindlich werden kann.
„Triffst Du Buddha unterwegs, so töte ihn!“
Ein buddhistischer Lehrer, der einem Schüler diese Gefahr auf besonders eindrückliche Weise deutlich machen wollte, sagte zu ihm: „Triffst Du Buddha unterwegs, so töte ihn!“ Was er damit sagen wollte ist, dass wir uns an nichts festhalten können, was jemand anderes gesagt oder getan hat – noch nicht einmal an unseren eigenen vergangenen Erfahrungen. Das Leben ist ständig neu und frisch und auch, wenn uns die Erfahrungen der Vergangenheit wertvolle Hinweise geben können, worauf wir achten sollten, können wir dem sich entfaltenden Leben nur gerecht werden, wenn wir in direktem Kontakt mit ihm sind. Dann können wir auf das, was das Leben uns zeigt „antworten“, statt nach alten Mustern oder Regeln zu reagieren.
Wenn wir uns also im Leben mit Kindern von Maria Montessori inspirieren lassen wollen, sollten wir weniger auf das schauen, was sie getan hat, sondern eher auf ihre innere Haltung – auf die Art und Weise wie sie Kinder gesehen hat. Es geht darum, so etwas wie einen inneren Kompass zu entwickeln, an dem wir uns immer wieder neu orientieren können. Wenn es wirklich unser Anliegen ist, den inneren Bauplan eines Kindes so gut wie möglich zu respektieren, so ist das die beste Voraussetzung, und die Praxis der Achtsamkeit kann eine wesentliche Hilfe dabei sein, uns immer wieder neu auf jedes Kind und jede Situation einzustimmen und immer wieder zu überprüfen, ob unsere Prinzipien noch dem Leben dienen, oder vielleicht zu starren Regeln geworden sind.
Dann können wir vielleicht auch sagen: „Triffst du Maria Montessori unterwegs, so töte sie!“ und sind damit nicht respektlos, sondern im Gegenteil – vielleicht ist es genau das, was es braucht, wenn wir Kinder in ihrem Geiste ins Leben begleiten wollen.
Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Oktober 2012