achtsam leben – achtsam lehren

Lienhard Valentin

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Freundschaft schließen mit sich selbst

19. Januar 2016 von mediengenossin

Immer wieder begegnet mir in Seminaren das Phänomen, dass viele Eltern sehr hart mit sich zu Gericht gehen, wenn das Leben mit ihren Kindern nicht so läuft, wie sie es sich vorstellen und sie sich selbst nicht so verhalten, wie sie es eigentlich gerne möchten. Gerade, wenn es schwierig wird, scheint es häufig nur 2 Möglichkeiten zu geben: Entweder stimmt etwas nicht mit uns oder die Kinder sind einfach schwierig. Immer wieder zitiere ich gerne die junge Mutter, die in der Anfangsrunde eines Seminars sagte: „Ich bin hier, weil bis ich Mutter wurde, konnte ich in der schönen Illusion leben, ein netter Mensch zu sein!“

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Und natürlich lachten alle Anwesenden in dieser Runde – nicht über die Mutter, sondern weil sich alle in dieser Aussage mehr oder weniger wiederfinden konnten. Wenn wir uns auf unsere Kinder einlassen, führt dies häufig zu einer tiefen Liebesbeziehung, die innere Schichten in uns berührt, von denen wir gar nicht ahnten, dass es sie gibt. Es ist eine Beziehung, die uns nicht nur an unsere Grenzen, sondern immer wieder auch über diese hinaus bringt und sie bringt unsere besten Seiten wie Liebe, Mitgefühl und Hingabe als auch Seiten von uns ans Tageslicht, die wir nicht so gern sehen. Vor allem, wenn wir nicht genug Schlaf haben, ungeduldig und unter Zeitdruck sind oder unsere Wirklichkeit allzu weit von unseren Idealen entfernt ist, verhalten wir uns nicht so, wie wir das gerne würden. Schon im letzten Heft habe ich einiges dazu geschrieben, dass unsere Werte im Leben mit Kindern keine Ziele sind, denen wir mehr oder weniger nahe kommen müssen, sondern eher eine Art Leitstern, an dem wir uns ausrichten können. Kinder auf eine Weise ins Leben zu begleiten, die sie sie selbst sein lässt und sie nicht nach unseren Vorstellungen zu „erziehen“, ist eine riesige Herausforderung, nicht zuletzt deshalb, weil es jungen Eltern häufig an der nötigen Unterstützung fehlt.

Wenn wir uns auf unsere Kinder einlassen, führt dies häufig zu einer tiefen Liebesbeziehung, die innere Schichten in uns berührt, von denen wir gar nicht ahnten, dass es sie gibt.

Es ist also weder unser Fehler, noch der unserer Kinder, wenn wir immer wieder mal vom Kurs abkommen. Stress, finanzielle Sorgen, Schlafmangel, Zeitdruck – es gibt viele Faktoren die es schwierig machen, mit uns, unseren Kindern und unserem Herzen in Verbindung zu bleiben. Wie kommt es, dass unsere inneren Werte zu Idealen werden, die uns das Leben schwer machen, statt uns zu helfen, uns immer wieder neu auszurichten, wenn wir den Kurs verloren haben? Zwei Aspekte die eng miteinander verwoben sind, möchte ich in diesem Artikel etwas näher erkunden: Das imaginäre perfekte Elternselbst und den inneren Kritiker.

Der Anspruch möglichst immer alles richtig zu machen und die ständige Angst nicht gut genug zu sein, sind meist alte innere Programme, die sich in unserer Kindheit entwickelt haben. Da wir natürlicherweise nur das Beste für unsere Kinder möchten, schlagen diese Programme vor allem hier zu – denn das Letzte was wir möchten ist, dass wir unseren Kindern schaden. Es mag auch eigene Tendenzen dazu geben, sich hohe Ziele zu setzen, aber dass wir unseren Selbstwert davon abhängig machen, ob wir diese Ziele erreichen oder nicht, hängt vor allem damit zusammen, dass wir Zuneigung und Liebe nicht bedingungslos bekommen haben, sondern wenn wir den Erwartungen unserer Eltern genügten. Und da diese Liebe für uns als Kinder so existentiell wichtig war, haben wir diese Ansprüche an uns verinnerlicht und so etwas wie ein „perfektes Selbst“ entwickelt sowie einen inneren Kritiker, der uns das Leben schwer macht, wenn die Realität nicht so perfekt aussieht wie das Ideal.

Unser perfektes Selbst macht keine Fehler, findet immer eine Lösung in jeder noch so verrückten Situation, ist immer achtsam und einfühlsam und nie genervt. Kommt Ihnen das bekannt vor? Vermutlich sieht Ihr perfektes Selbst noch anders aus. Wenn es in uns die Oberhand gewinnt, ist das auf jeden Fall geradezu eine Garantie dafür, uns schlecht und unzulänglich zu fühlen. Von daher lohnt es sich sehr, sich mit ihm bekannt zu machen und es zu erkennen, wenn es sich meldet sowie Wege zu finden, dass es an Macht über uns verliert.

Unser perfektes Selbst können wir besonders dadurch besser erkennen, dass wir unseren inneren Kritiker erforschen. Dieser sitzt uns mit allen möglichen „Solltes“ im Nacken. „Ich sollte achtsamer sein“, „ich sollte nicht so gereizt sein“, „ich sollte mehr meditieren“. Vor allem, wenn wir unserem perfekten Selbst nicht genügen, erhebt der innere Kritiker seine Stimme und macht uns das Leben noch schwerer, als es in diesen schwierigen Momenten ohnehin schon ist: „Warum kannst du nicht so wie Soundso sein?“ „Jetzt liest du schon diese Zeitschrift und tausend Bücher und trotzdem bringst du es nicht auf die Reihe!“ Es lohnt sich sehr, sich etwas Zeit zu nehmen, sich die Kommentare unseres inneren Kritikers aufzuschreiben und sie sich dann einmal in Ruhe anzuschauen. Würden wir so mit einer befreundeten Mutter reden, wenn sie es gerade schwer hat? Wenn wir unseren inneren Kritiker näher erforschen, stellen wir vermutlich fest, dass er uns eigentlich helfen will – er möchte, dass wir uns „richtig“ verhalten. Von daher müssen wir ihn auch nicht bekämpfen, sondern können seine Bemühungen anerkennen, wenn wir ihn zu uns sprechen und uns antreiben hören. Gleichzeitig können wir vielleicht aber auch einen wohlwollenden und einfühlsamen Teil in uns selbst aktivieren. Wie wäre es also, wenn wir erst einmal anerkennen, dass es manchmal oder auch häufig schwierig ist? Wie wäre es, wenn wir mit uns selbst Freundschaft schließen und uns selbst Wohlwollen und Mitgefühl entgegen bringen, wenn es schwierig ist, statt uns zu kritisieren oder gar zu verdammen?

„Ja, ich habe die Geduld verloren und herum geschimpft, obwohl ich das eigentlich nicht wollte. Ich bedaure das zutiefst und frage mich, wie es dazu kommen konnte, dass ich mich so verloren habe (und je nach Alter entschuldige ich mich bei meinem Kind).“ Und dann kann ich schauen, was mich in Zukunft unterstützen könnte, mehr mit mir und meinen Kindern in Verbindung zu sein, was der nächste kleine Schritt zu weniger Stress und Druck und zu mehr Freude und Leichtigkeit ist. So, oder so ähnlich könnte unser innerer Dialog aussehen, wenn wir den mitfühlenden Teil in uns stärken und uns von unserem inneren Kritiker nicht in die Enge treiben lassen.

Inzwischen gibt es sogar einige Forschungen zu diesem Thema und die Ergebnisse sind sehr ermutigend: Ein höheres Maß an Selbstmitgefühl geht einher mit einer größeren Lebenszufriedenheit, Stressresistenz, emotionaler Intelligenz und sozialer Verbundenheit sowie mit weniger Selbstkritik, Depression, Ängsten, Grübeln und Gefühlsunterdrückung. Und was die Forschung ebenfalls zeigt: Egal wie hart und grausam unser innerer Kritiker ist – wir können schon heute anfangen, den mitfühlenden Teil in uns zu nähren und zu stärken. Für mich ist es einer der schönsten und besonders berührendsten Momente in der Arbeit mit Eltern, wenn sie beginnen mit sich selbst Freundschaft zu schließen. Und immer wieder berichten sie, wie unmittelbar sich dies auf das Leben mit ihren Kindern auswirkt. Die Veränderungen geschehen selten von heute auf morgen, aber sie dauern auch nicht ewig. Tief sitzende alte Gewohnheiten und Denkmuster lösen sich nicht von alleine auf, aber die Sonne und der warme Regen von Wohlwollen und Mitgefühl uns selbst gegenüber schaffen die besten Voraussetzungen mit unseren Kindern zu wachsen und zu mehr Gelassenheit und innerem Wohlbefinden zu finden.

Kategorie: Artikel

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