achtsam leben – achtsam lehren

Lienhard Valentin

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Für Kinder gibt es keine universellen Regeln und Rezepte

17. Januar 2016 von mediengenossin

Wie sich gestresste Eltern helfen können und was Kinder brauchen, um einmal selbstbestimmte, verantwortungsbewusste Erwachsene zu werden

Christian Fauth im Gespräch mit Lienhard Valentin

Für Kinder gibt es keine Bedienungsanleitung. Jedes Kind ist anders, jedes Kind ist einzigartig, und das Gleiche gilt natürlich auch für die Eltern.
Dennoch: Aus einer Kinderstube muss keine Kampfzone werden. Gerade weil in hohem Maße die Erfahrungen, die wir in unseren ersten Lebensjahren machen darüber entscheiden wie wir leben und was wir sind. Dieses Wissen ist heute Allgemeingut und Eltern geben in aller Regel ihr Bestes, um ihren Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.

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Herr Valentin, Sie sind Pädagoge und Vater. Kann man Kindererziehung studieren oder scheitert hier die Theorie an der Praxis?

Ich denke schon, dass es sinnvoll ist, sich darüber Gedanken zu machen, wie man seine Kinder ins Leben begleiten will. Das wäre dann mit einer Art Landkarte zu vergleichen, an der wir uns immer wieder mal orientieren können. Auf der anderen Seite ist jedes Kind ein Geheimnis, wie Maria Montessori es ausgedrückt hat, und kein vorgefertigtes Wissen kann diesem Geheimnis auf die Spur kommen. Es geht mehr um Entfaltung als um Erziehung – also um die Bedingungen, die einem Kind helfen, seine einzigartige Individualität und sein Potential zu verwirklichen.

Vor 25 Jahren haben Sie den Verein „Mit Kindern wachsen“ und vor 15 Jahren die gleichnamige Zeitschrift gegründet. Was waren Ihre Beweggründe sowohl den Verein als auch die Zeitschrift ins Leben zu rufen?

Das hängt wie so häufig mit meiner eigenen Geschichte zusammen. Meine eigene Schulzeit habe ich in keiner Weise als bildend, sondern eher als belastend erlebt. Als ich schließlich die Erwartungen doch erfüllt hatte, wurde mir bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wer ich eigentlich bin und was ich aus meinem Leben machen will. So fing ich an, mich auf die Suche nach mir selbst zu machen, und stieß auf die Praxis der Achtsamkeit, Gestaltarbeit und andere Wege, mehr mit mir selbst in Kontakt zu kommen.

In diesem Prozess fragte ich mich, ob es denn wirklich sein müsse, dass man mit Anfang 20 zum Archäologen wird, um herauszufinden, wer man ist und was man mit seinem Leben machen will. So begann ich nach Wegen im Leben mit Kindern zu suchen, bei denen es nicht darum geht, sie so zu erziehen, wie die Eltern sie am liebsten hätten, sondern die jedem Kind die Möglichkeit geben, sich selbst zu entfalten. Was mir schnell auffiel, waren die Lebensfreude und der Forschergeist, den kleine Kinder haben. So ging ich der Frage nach, wie wir diesen Forschergeist, diese Begeisterung, Kreativität und Offenheit für Neues nähren können und so vermeiden helfen, dass diese kleinen Forscher oft nach kurzer Zeit in der Schule zu Null-Bock-Kindern werden, die nichts mehr mit sich anzufangen wissen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, die Praxis der Achtsamkeit helfe uns, wacher zu werden und mehr in Kontakt zu sein mit unserem Leben. Sind wir das denn im Alltagsleben nicht automatisch?

Leider nicht. Wir leben in einer sich immer schneller verändernden, rastlosen Gesellschaft, Stress ist ein konstanter Faktor für Unzufriedenheit und Krankheit. Einen Großteil unserer Zeit funktionieren wir einfach – aber eben auf Automatikpilot, mehr oder weniger bewusstlos. Wenn wir morgens aufwachen, liegt unser Körper vielleicht noch im Bett, aber unser Geist ist schon bei dem, was zu tun ist. Unter der Dusche spüren und genießen wir nicht das warme Wasser auf der Haut, sondern halten vielleicht schon eine Konferenz mit Menschen, die wir ansonsten nicht mit unter die Dusche nehmen würden. Und beim Essen schmecken wir vielleicht noch den ersten Bissen und sind ansonsten in Gedanken verloren.

So entstehen Unzufriedenheit und das Gefühl, ausgebrannt, nicht wirklich lebendig und ständig im Hamsterrad der Geschäftigkeit gefangen zu sein. Doch wie die aktuelle Bindungs- und Gehirnforschung zeigt, brauchen Kinder Erwachsene, die mit ihnen wirklich in Kontakt sind, für die sie eine Freude sind – von denen sie sich „gefühlt“ fühlen, wie es der amerikanische Psychologe Dr. Daniel Siegel so schön ausdrückt. Nicht 24 Stunden am Tag, aber doch immer wieder.

Ihr Buch heißt im Untertitel: Buddhistische Weisheit für den Familienalltag. Was hat Achtsamkeit mit Buddha zu tun?

Achtsamkeit ist etwas Universelles und taucht interessanterweise in jeder Religion auf. In allen Weltreligionen geht es um das Aufwachen und dazu gehört eine gewisse Praxis, innezuhalten und die Aufmerksamkeit nach innen zu richten. Während diese Praktiken in den meisten Religionen auf das mystische Erleben beschränkt sind, wurde sie im Buddhismus über 2.500 Jahre hinweg kultiviert und verfeinert. Der Buddhismus ist im herkömmlichen Sinne auch keine Religion, sondern eher eine Geisteserforschung – eine Art innere Wissenschaft.

So gibt es keine Glaubensbekenntnisse. Vielmehr sind wir aufgefordert, alles zu hinterfragen und unsere eigene Wahrheit zu finden. So ist die Achtsamkeitspraxis an keine Religion gebunden und kann unabhängig vom eigenen Glaubenshintergrund praktiziert werden. Besondere Anerkennung hat hier Professor Jon Kabat-Zinn verdient, der die Achtsamkeitspraxis von allem kulturellen und religiösen Beiwerk befreit und unter laufender wissenschaftlicher Forschung in das Gesundheitssystem integriert hat.

Kinder tun oft nicht, was ihre Eltern ihnen sagen, haben ihre ganz eigenen Vorstellungen und Wünsche und verhalten sich womöglich auch mal provozierend. Auf der anderen Seite stehen die Eltern, die an sich selbst den Anspruch richten, ihr Kind zu erziehen, Grenzen und Regeln aufzustellen und konsequent durchzusetzen. Wie kann das zusammenpassen?

Eine Mutter in einem meiner Seminare sagte in der Anfangsrunde: „Ich bin hier, weil ich, bis ich Mutter wurde, in der schönen Illusion leben konnte, ein netter Mensch zu sein.“ Es scheint in der Natur der Sache zu liegen, dass Kinder uns an unsere Grenzen und darüber hinaus bringen. Das ist ohne Zweifel anstrengend und eine große Herausforderung – auf der anderen Seite aber auch eine unvergleichliche Chance, über uns selbst hinauszuwachsen und wieder mehr mit unserer inneren Lebendigkeit und Lebensfreude in Kontakt zu kommen. Wichtig ist hierbei, wie wir das Verhalten eines Kindes interpretieren.

Die herkömmliche Erziehung versucht meist das Verhalten von Kindern zu ändern – sie durch Grenzen, Konsequenzen und andere Maßnahmen unseren Vorstellungen entsprechend zu erziehen. Dies scheint aber nur sehr bedingt zu funktionieren und verwandelt das häusliche Heim oft in eine Art Kampfplatz. Das muss nicht sein. Wenn wir uns mehr an den Bedürfnissen orientieren statt am Verhalten, sieht die Sache schon ganz anders aus. Dann ist eine so genannte Provokation vielleicht ein Hinweis, dass dem Kind etwas fehlt – das ein wichtiges Grundbedürfnis nicht ausreichend berücksichtigt wird. Das kann das Bedürfnis nach Sicherheit und Verbundenheit, nach bedingungsloser Liebe, nach Souveränität sein – das Bedürfnis, sein eigenes Leben zu leben.

„Wenn Du nicht Deinen Teller aufisst, dann gibt es keinen Nachtisch.“ Mit Strafen zu drohen ist ein weit verbreitetes Mittel, mit dem Eltern bei ihrem Kind ein bestimmtes Verhalten durchzusetzen versuchen. Doch oft machen sie die Erfahrung, dass drohen und strafen nicht wirklich weiterhelfen. Wie kann man besser reagieren, wenn man das Kind zu einem anderen Verhalten bewegen möchte, ohne es zu seinem Gegner zu machen?

Selbst wenn diese Maßnahmen funktionieren, sind die Nebenwirkungen nicht unerheblich. Der amerikanische Pädagoge Alfie Kohn hat in seinem Buch Liebe und Eigenständigkeit zahlreiche Forschungen zusammengetragen, die dies mehr als deutlich machen.

Was Kinder durch derartige Maßnahmen vor allem lernen ist, dass derjenige, der die Macht hat, seinen Willen durchsetzen kann. Sie werden sicher nicht zu einer Einsicht gelangen – mal ganz davon abgesehen, dass eine Forderung wie die, seinen Teller aufzuessen, auch in anderer Hinsicht eher schädlich ist. Sie erzieht dazu, nicht auf den eigenen Körper zu achten, was dazu führt, dass wir uns von unseren Bedürfnissen entfremden und nicht mehr spüren, was uns gut tut und was nicht. Das zeigt, dass wir auch unsere Erwartungen, was ein Kind tun oder lassen sollte, hinterfragen müssen. Warum sollte ein Kind seinen Teller aufessen? Warum soll es nicht Käse mit Marmelade essen, warum soll es still am Tisch sitzen usw. Auf der anderen Seite wird ein Kind, das sich verstanden und angenommen fühlt, sehr viel eher bereit sein, mit seinen Eltern zu kooperieren, wenn dies nötig ist.

Leider – oder glücklicherweise – gibt es für diesen Prozess keine Patentrezepte. Die Verbindung zu unseren Kindern ist letztlich eine tiefe Liebesbeziehung – und in Liebesbeziehungen geht es nicht darum, dass sich eine Seite durchsetzt, sondern dass Konflikte auf konstruktive Weise gelöst und die Bedürfnisse aller Parteien berücksichtigt werden. Für Liebesbeziehungen, für das Leben überhaupt, gibt es keine Gebrauchsanweisung. Von daher führt die Frage: „Was mache ich, wenn mein Kind …“ nicht wirklich weiter. Vielmehr geht es um eine innere Haltung, um eine bestimmte Qualität der Beziehung.

Von daher zeigen Petra Kunze und ich in unserem Buch den Eltern Wege auf, wie sie ihre Wahrnehmungsfähigkeit und ihr Einfühlungsvermögen entwickeln können – Einfühlung in die Kinder, aber auch in sich selbst. Natürlich können wir Kindern nicht immer die Entscheidung überlassen, aber wenn wir ihre Perspektive in unsere Entscheidungen einbeziehen, wenn sie die Sicherheit haben, dass ihre Bedürfnisse von uns respektiert und berücksichtigt werden, haben sie es nicht nötig, um ihre Souveränität zu kämpfen.

Stress, Ärger, Wutanfall: Diesen Automatismus kennen viele Eltern. Was passiert da und wie kommt man da raus?

Hier hat sich vor allem die Praxis der Achtsamkeit bewährt, anders mit solchen Emotionen umzugehen. Diese Reaktion kommt aus unserem alten Gehirn, das in Aktion tritt, wenn wir uns bedroht fühlen. Es sind sehr alte Prägungen aus der Zeit des Säbelzahntigers, und die Möglichkeiten, die uns die Evolution für Lebensgefahr zur Verfügung gestellt hat, sind Angriff, Flucht oder Erstarren – also sich tot stellen. Diese Reaktionen werden sehr schnell ausgelöst, wenn wir uns bedroht fühlen, und sie mögen bei äußeren Gefahren häufig auch sinnvoll sein. Da gilt es, nicht lange nachzudenken, sondern schnell zu reagieren.

In Beziehungen zu Kindern ist diese Art von Reaktion aber nicht sehr hilfreich. Unser Organismus reagiert auf eine emotionale Bedrohung – zum Beispiel Hilflosigkeit oder Ohnmacht – genauso wie auf eine äußere Bedrohung. Die Kampf-Flucht-Reaktion wird ausgelöst und wir können nicht mehr einfühlsam auf eine Situation eingehen, sondern rasten aus. In unseren Elternseminaren ist dies natürlich ein wichtiges Thema und wir vermitteln Werkzeuge, mit diesen Emotionen anders umzugehen, so dass wir angemessener auf unsere Kinder eingehen und besser für uns selbst und unsere Bedürfnisse sorgen können.

Ein weiterer Aspekt ist die Selbstfürsorge. Wenn ich mehrere Nächte schlecht geschlafen habe oder unter Zeitdruck bin, werde ich anders reagieren, als wenn es mir gut geht und ich einigermaßen ausgeglichen bin. Von daher ist es wesentlich, dass vor allem Mütter mehr Unterstützung bekommen und lernen, besser für sich selbst zu sorgen. Wenn meine eigene Tasse leer ist, habe ich nicht viel zu verteilen. Auch hier ist die Praxis der Achtsamkeit eine große Hilfe – wir lernen unsere inneren Kraftquellen aufzufüllen, unsere Emotionen besser zu regulieren und eher auf Kinder einzugehen, statt automatisch zu reagieren.

Oft sind Eltern, wenn ihre Kinder nicht das machen, was ihnen gesagt wird, auch der Kritik anderer Menschen ausgesetzt, wie beispielsweise der eigenen Eltern, und sehen sich mit Anklagen konfrontiert wie: „Warum hört Euer Kind nicht, wenn man ,Nein’ sagt? Warum erzieht Ihr es nicht?“ Wie würden Sie in einer solchen Situation reagieren?

Grundsätzlich würde ich mir überlegen, wessen Leben ich leben will. Das meiner Mutter, meiner Schwiegermutter, meines Großvaters, meiner Nachbarin oder mein eigenes. Das ist durchaus eine wichtige Frage, der es nachzugehen lohnt. Was ist mir wirklich wichtig? Was sind meine Werte? Und dann kommt es darauf an, ob meine Mutter oder mein Vater einfach nur möchte, dass das Kind funktioniert oder ob sie offen sind, eine andere Meinung anzuhören. Und dann kommen an dieser Stelle auch noch unsere langfristigen Ziele ins Spiel. Möchten wir, dass aus unseren Kindern Menschen werden, die immer brav tun, was man ihnen sagt? Oder die gegen alles revoltieren müssen, weil sie sich nicht unterwerfen wollen? Oder wollen wir, dass unsere Kinder eigenständig und selbstverantwortlich denken und handeln können, dass sie soziale und emotionale Kompetenz entwickeln, bei Schwierigkeiten in ihrem Leben nicht ängstlich oder aggressiv reagieren, sondern kreativ und flexibel? Dass sie mit sich und ihren Bedürfnissen in Kontakt sind, ihr eigenes Leben leben und nicht einfach nur gut funktionieren?

Wenn unsere Ziele eher in diese Richtung gehen, geht es auch nicht mehr so sehr darum, ob wir in der Erziehung alles richtig machen – vielmehr geht es um Menschlichkeit. Indem wir eine Atmosphäre von Liebe, Mitgefühl, gemeinsamer Freude und Respekt schaffen, geben wir Kindern die Möglichkeit, ihr Potential zu entfalten und mit sich selbst in Frieden zu sein. Und gleichzeitig entwickeln sie Resilienz – das ist die Fähigkeit, auf Stresssituationen angemessen zu antworten und kreative Lösungen zu finden, statt sich in sich selbst zurück zu ziehen oder aggressiv zu werden.

Ein Gehirnforscher drückte das einmal so aus: „Wir werden zwar als Menschen geboren, aber unsere Menschlichkeit kann sich nur entfalten, wenn wir in einer von Menschlichkeit geprägten Umgebung aufwachsen.“ Menschlichkeit ist letztlich nur ein Potential. Ob dieses Potential zur Entfaltung kommt, hängt davon ab, unter welchen Umständen ein Mensch aufwächst. Und Strafen – oder Konsequenzen wie das heute lieber genannt wird – führen nachgewiesenermaßen nicht dazu, dass Kinder sich sozialer verhalten und zu einer tieferen Einsicht gelangen.

In einer Familie sind Vater und Mutter unterschiedliche Persönlichkeiten, die sich hin und wieder auch in ihrer Vorstellung von Erziehung und ihren Einstellungen zu bestimmten Regeln oder Werten unterscheiden. Ist das für das Kind automatisch ein Problem?

Überhaupt nicht! Diese Vorstellung kommt noch aus der Zeit, als es in der Erziehung letztlich um Dressur ging. Es ist ja nicht nur so, dass Vater und Mutter verschiedene Grenzen und Vorstellungen haben – auch wir selbst sind ja nicht immer gleich. Wenn wir ausgeglichen und entspannt sind, reagieren wir vollkommen anders auf eine Situation, als wenn wir im Stress und unter Zeitdruck sind. Auch hier kommt es also vor allem darauf an, dass wir der Situation entsprechend entscheiden – und die ist nie gleich. Von daher ist auch ein Ziel unserer Arbeit mit Eltern, mehr mit sich, dem Kind und der Situation in Kontakt zu sein. Wir, das Kind, die aktuelle Situation – das alles verändert sich ständig und je mehr wir mit uns, dem Kind und der Situation in Kontakt sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir einen Weg finden, der allen Seiten möglichst gerecht wird. Ich verwende da gern das Bild des Surfens. Das Meer ist ständig anders und wir können die Wellen nicht kontrollieren – aber wir können lernen zu surfen.

Kinder und Erwachsene unterscheiden sich in ihrem Denken, ihren Bedürfnissen und ihren Möglichkeiten, auf bestimmte Situationen zu reagieren. Wie können Eltern die Welt ihres Kindes besser wahrnehmen und in ihrem Verhalten berücksichtigen, also auf ihr Kind eingehen?

Das ist eine sehr wichtige Frage! Im Verein „Mit Kindern wachsen“ haben wir für Eltern von Kindern zwischen drei Monaten und zwei Jahren den so genannten Mit Kindern wachsen EntdeckungsRaum entwickelt. Dies sind Eltern-Kind-Gruppen, in denen Eltern schon sehr früh anfangen können, ihre Kinder besser kennen zu lernen und die Welt aus deren Perspektive zu sehen. Wenn wir in unserer eigenen Kindheit nicht mit einem solchen Respekt und Einfühlungsvermögen gesehen wurden, müssen wir dies erst lernen – wir können nicht auf eine eigene Erfahrung zurückgreifen. Für diesen Prozess ist meist Unterstützung von außen notwendig – und der Austausch mit Gleichgesinnten, die ebenfalls mit ihren Kindern neue Wege gehen wollen.

Was können Eltern tun, um ihr Kind dabei zu unterstützen, seine Fähigkeiten und Begabungen zu entfalten?

Auch hier werden die Grundlagen schon im Säuglingsalter gelegt. Kleine Kinder sind Forscher, die alles erkunden wollen. Um diesen Forschergeist aufrecht zu erhalten, brauchen sie das, was Maria Montessori eine vorbereitete Umgebung nannte. Das heißt eine Umgebung, die sicher ist und in der sie ihren Forschungen möglichst ungestört nachgehen können. Wenn sie ständig ein ärgerliches Nein hören, werden sie ihren Forschergeist entweder aufgeben oder sie werden trotzig. Aber nicht, weil es etwa schwierige Kinder sind, sondern weil sie nicht genügend Möglichkeiten haben, ihre Forschungen zu betreiben. Kinder sind neugierig und diese Neugier, diesen Drang zu spielen und zu forschen, gilt es zu unterstützen. Wir brauchen Kinder nicht antreiben und motivieren. Ihr Drang, über sich selbst hinaus zu wachsen, ist sehr stark. Sie verfolgen ihre selbst gewählten Projekte oft sehr ausdauernd – wenn wir sie lassen. Und der Lerneffekt ist weitaus größer als bei all den Dingen, die wir Erwachsenen uns ausdenken und den Kindern einzutrichtern versuchen.

Immer mehr Kinder kommen heutzutage in therapeutische Behandlung. Wie kommt das?

Ich denke schon, dass heute mehr als früher die Tendenz besteht, Kinder, die nicht stromlinienförmig sind, die den Erwartungen von Erziehern, Lehrern oder ihrer Eltern nicht entsprechen, recht schnell als verhaltensauffällig und therapiebedürftig einzustufen. Viele Kinder werden heute auf ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Störung) hin behandelt, obwohl sie eigentlich gar nicht an dieser Erkrankung leiden. Es gibt nun einmal Kinder, die lebendiger sind als andere, und die ein starkes Bedürfnis haben, nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben.

Sie können sich sehr gut auf Dinge konzentrieren, die sie interessieren, und nicht so gut auf Themen, die ihnen von außen aufgezwungen werden. Für einen Erwachsenen ist der Umgang mit einem solchen Kind natürlich zeit- und vielleicht auch nervenraubender, als mit einem Kind, das ruhiger veranlagt ist und dem die Zustimmung durch andere sehr wichtig ist. Die Tendenz, besonders lebendige Kinder, die oft auch besonders kreativ sind, als verhaltensauffällig und behandlungsbedürftig zu betrachten, wirkt sich in der Regel auch negativ auf diese Kinder aus.

Ein Kind, das als Störenfried betrachtet und behandelt wird, wird sich früher oder später – auch wenn es eigentlich ganz „normal“ ist – genau so verhalten. Denn das Selbstbild eines Kindes entwickelt sich vor allem daraus, wie sein Umfeld, und gerade auch die Erwachsenen in seinem Umfeld, dieses Kind ansehen und behandeln. Es ist daher wichtig, dass wir bei Kindern auf ihre Stärken schauen, auf das, was sie gut machen, und ihnen so ein positives Bild von sich selbst widerspiegeln. Das ist eigentlich gar nicht so schwer, denn jedes Kind trägt in sich einen Schatz, der in der buddhistischen Lehre das „grundlegende Gutsein“ genannt wird.

Was hat es damit auf sich?

In unserer Kultur ist noch immer die Vorstellung tief verankert, dass der Mensch – also auch ein Kind – schlecht oder böse ist und nur durch Erziehung zu einem sozialen Menschen wird. Wenn ich als Vater oder Mutter diese Vorstellung habe, hat das natürlich zur Folge, dass ich eher zu Dressurmethoden neige, als mein Kind sich entfalten zu lassen. Die aktuelle Forschung hat jedoch gezeigt, dass Kinder schon von Geburt an sozial sind. Manche Gehirnforscher gehen heute sogar davon aus, dass unsere Gehirne so sozial veranlagt sind, dass man sie eigentlich kaum für sich allein verstehen kann, sondern nur in ihrer Vernetzung zu ihrem sozialen Umfeld.

Wie gesagt – Menschlichkeit ist nur ein Potential, das bestimmte Bedingungen braucht, um sich zu entfalten. Maria Montessori spricht von einem inneren Bauplan der Seele, der die Bedingungen für die optimale Entfaltung dieser einzigartigen Seele vorgibt. Und sie spricht davon, dass jedes Kind – jeder Mensch – letztlich ein Geheimnis ist. Insofern kann man auch nie wirklich wissen, was ein Kind braucht – nur, indem wir uns immer wieder zuwenden, kann dieses Geheimnis den einen oder anderen Schleier lüften und sich verwirklichen. Es geht also mehr darum, immer wieder in der Frage zu leben, statt nur nach Antworten zu suchen.

Wie, glauben Sie, wünschen sich Kinder ihre Eltern?

Eines ist sicher – kein Kind wünscht sich perfekte Eltern. Aber menschliche Eltern, die mich so lieben und annehmen, wie ich bin, mir ermöglichen, meinen Interessen nachzugehen, und die meine Wünsche und Bedürfnisse in ihre Entscheidungen mit einbeziehen – was würde ich mir mehr wünschen?

Das heißt nicht, dass sie nicht auch mal spinnen, schlechter Laune oder ansonsten neben der Spur sein dürfen – das ist ja schließlich auch nur menschlich. Der tiefste Wunsch ist aber wohl der, so angenommen und geliebt zu sein, wie man ist. Wenn Sie möchten, können Sie selbst mal eine Weile der Frage nachsinnen: „Wie würde es sich anfühlen, wenn ich die absolute Gewissheit hätte, dass ich so geliebt bin, wie ich bin? Nicht nur, wenn ich die Erwartungen anderer erfülle – sondern grundlegend! Was wäre das für ein Lebensgefühl! Wie würde ich dann im Leben stehen?“

Das Interview wurde geführt von Christian Fauth, R+V Betriebskrankenkasse, und ist erschienen in: BKKiNFORM, Februar-Ausgabe 2011 und auf ruv-bkk.de.

Wir danken der ruv-bkk für die Abdruckgenehmigung dieses Interviews.

Kategorie: Allgemein

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